Des Grafen Auftragsschreiben!
(c) Holger Bücker / music2see
Ein schmerzlich kalter Wintertag in meiner Schreibstube, ein nur in Kleinstmengen Wärme verströmender Kaminofen und vor mir des Grafen unerbittliches Auftragsschreiben, eine Erklärung verfassen zu müssen. So sitz ich hier, ich Archivar und wär‘ lieber in Sansibar! Wie stelle ich es nur an, die georderte Erklärung in Worte zu fassen? Welche Last wurde mir hier vom Grafen Lindorf übertragen, ein Bote zu sein, der schwere Kunde zu überbringen hat. Ich kann Ihnen versichern, daß meine Hände zittern, ich nach helfenden Stricken suche, um die Arbeit aufschieben zu dürfen. Doch der Graf war persistent in seinem Geheiß, keine Zeit zu verlieren.
Es handelt sich um nichts weniger als den Abschied des coppelianischen Cellisten von den Konzertreisen der Herren von Coppelius! Die nun näher rückende Konzertreise anlässlich der Veröffentlichung des neuen Albums „Abwärts“ wird möglicherweise (dieses Wort habe ich unter Gefahr höchster Strafe nach dem Gegenlesen des Grafen noch heimlich in diese Erklärung geschmuggelt) die letzte sein.
Ob es mit einer umgestoßenen Teetasse eines unachtsamen Kollegen begonnen hatte, ob ihm immer wieder zu weich gekochte Frühstückseier des fahrigen Bastille das Hirn aufgeweicht, ob ihn ein wiederholt falsch gespielter Ton auf einer der aufreibenden Proben mit Sissy Voss im viel zu engen Probensalon zu sehr aufgeregt oder die durch das ganze Herrenhaus schallenden Querelen der zankenden Klarinettisten das Fass zum Überlaufen gebracht hatten, wird wohl nicht mehr zu ermitteln sein. Jedenfalls: der Graf nimmt seinen Zylinder und hängt seinen Gehrock an den Nagel (ihn fror schon immer eher um die Ohren). Die Coppelianer beschuldigen sich natürlich gegenseitig, den Grafen weggeekelt zu haben, nicht richtig auf ihn eingegangen zu sein, beim Applaus das eine oder andere Mal vor ihn getreten zu sein oder ihm das letzte Stück Kuchen nicht doch überlassen zu haben. Daß damit nun auch die zum Gelingen des coppelianischen Ruhms beitragenden Pflichten des Grafen von einem anderen Herrn übernommen werden müssen, sorgt für große Aufmerksamkeit, sich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort zu befinden und ungewollt diese oder jene Obligation zugeerbt zu bekommen. Zum Beispiel mehrmals am Tage den Klopfer am Eingangstor des Herrensitzes auf einwandfreien und polierten Zustand und auf quietschfreie Funktion inspizieren zu müssen, da beim Abschließen der Versicherung für das Anwesen ein fieser Passus (gängige Praxis gegen Ende des 19. Jh.) unbemerkt untergeschummelt worden war. Oder das Probesitzen der regelmäßig neu zu beziehenden Instrumentenkissen, welches wohl mit irgendeinem unbekannten Aberglauben der Herren zu tun hat. Oder das täglich 13fache Auf- und Abrennen der Hausflurtreppen bis unter das Dach und wieder hinunter, welches der Graf aufgrund einer verlorenen Wette von Coppelius auf sich genommen hatte und nun als Pflicht auf einen anderen der Herren übergehen muss. Die Bedrückung steht den Herren ins Gesicht geschrieben, wenn der Graf zudem behauptet, nach 220 Jahren nun auch anderen Geschöpfen, die ihn nötiger brauchen, seine Zeit widmen zu wollen.
Ich hatte es länger geahnt und die Herren gewarnt, seinen Schreibtisch nicht ständig in Unordnung zu bringen, sich mit der Abgabe eines Reparaturbelegs – ja, der Graf ist ein Pedant – für seine Bücher nicht immer so viel Zeit zu lassen oder ihm das Händeschütteln und Schulterklopfen nicht zu vergessen. Aber auf mich hört ja niemand. Ich bin nur die von ihm mies bezahlte Schreibkraft und musste dieses Blatt nun schon zum vierten Mal neu schreiben, da mir die Tränen – ja ich gebe es zu – in die Tinte geflossen sind.
Er sei sich sicher, dass man ihn nicht vermissen werde, denn seinen eigenen Aussagen zufolge wäre er sowieso der unbeliebteste Coppelianer von allen. Ob dieser Gedanke seinem Narzissus entspringt oder eher mit der Tatsache zu tun hat, daß die coppelianischen Anhänger ihn für unnahbar, abweisend, ja sogar für überheblich halten, wenn er in seinem pflichtbeflissenen Umherirrwahn kaum ein freundliches Wort übrig zu haben scheint – ich kann es nicht wissen. Sie werden diesbezüglich schlauer sein als ich, denn Sie sind es, die (auch ihn) sozusagen im Felde und vor Ort unterstützt haben auf so vielen Konzerten. Gestatten Sie mir, dem coppelianischen Archivar, die kleine Freude bei der Last dieser Botschaft, Ihnen versichern zu dürfen, daß er es vermissen wird, zukünftig nicht mehr in Ihre Gesichter blicken zu können, wenn er vom Rande der Bühne verstohlen seinen Blick hebt. Lassen Sie es sich nicht nehmen, ihn und die Coppelianer nach so langen Jahren der Einschränkungen noch einmal auf einer Klub-Konzertreise zu treffen!
Ich jedenfalls möchte nicht, daß er geht und werde nicht Ruhe geben, ehe ich ihm ein Zugeständnis abgerungen habe, dem Herrensitz nicht auf Dauer verloren zu gehen. Aber wer hört schon auf den Archivar?